KulturScouts auf
Zeitreise ins
Zieglerleben
Mittwoch, 16. November 2011: Heute steht für die 6b der Hauptschule Verl eine Lerneinheit der besonderen Art an. Zum ersten Mal sind die Schüler als KulturScouts unterwegs und reisen – ebenfalls für viele zum ersten Mal – mit Bus und Bahn zum LWL-Industriemuseum Ziegelei Lage. Hier erleben sie für einen Vormittag Geschichte einmal ganz hautnah. Bei frostigen Temperaturen und strahlendem Sonnenschein erkunden sie das weitläufige Gelände der Ziegelei und erarbeiten sich in kleinen Gruppen Inhalte der Ausstellung selbstständig.
Die Museumspädagogin Birgit Morgner begrüßt die KulturScouts im Museum und führt die Schüler in die Geschichte der Ziegelei ein. Heute geht es darum, eine Zeitreise in das vorindustrielle Zeitalter zu unternehmen und sich in die Lebens- und Arbeitssituation von Wanderzieglern um die Jahrhundertwende hinein zu versetzen. Jeder Schüler bekommt einen Ausweis, dem er seinen neuen Namen entnehmen kann: Aus Daniel wird Adolf, aus Dimitri wird Fritz. Auch die Mädchen bekommen neue Namen: Wilhelm, Gustav, Johannes und Albert. „Damals war etwa jeder dritte Lippische Mann Ziegler. Schon mit 14 Jahren musste man diese harte Arbeit aufnehmen. Die jungen Männer waren also gerade mal zwei Jahre älter als Ihr.“ erklärt Frau Morgner den Schülern. „Cool, dann mussten die ab 14 nicht mehr in die Schule!?“ entfährt es einem Schüler in der ersten Reihe. Im Laufe des Tages erfahren die Schüler dann allerdings eigenhändig, dass die Alternative eine recht ungemütliche war. So ein Wanderziegler musste schon einmal 14 Stunden am Tag auf Wanderschaft gehen, zum Beispiel wenn er eine Anstellung in Holland antrat. Dort hieß es dann auch den ganzen Tag schuften und das sechs Tag die Woche. Als Ziegler zu arbeiten erforderte Geschick, aber auch Schnelligkeit, denn die Handarbeit wurde nach Akkord bezahlt. Der Brenner hatte eine besonders heikle Aufgabe: Wenn ihm ein Brand misslang, war das Werk von gleich mehreren Arbeitern hinüber und die ganze Arbeit umsonst gewesen. Ganz schön stressig, das ahnen die KulturScouts inzwischen schon. Aber auch die Freizeit war alles andere als entspannt: Kochen, Waschen und Hausarbeit war ohne Elektrizität wie wir sie heute kennen noch wesentlich beschwerlicher.
Mit den neuen Namen bekommt auch jede Gruppe einen Arbeitsauftrag, um dem eingangs theoretisch vorgestellten Berufsfeld nun auch praktisch nachzuspüren. In kleinen Gruppen tun sich die Ziegler nun zusammen und erkunden – mit Fragebögen bewaffnet – die Ausstellung. Viele der Fragen lassen sich anhand der Schautafeln und der Objekte in der Ausstellung beantworten. So manchen Ziegler packt allerdings die akute Lesemüdigkeit, deretwegen sich die Fragen nicht so einfach beantworten lassen, wie von der Frau Morgner erwartet. Nach der Museumsrallye kommt die Klasse draußen wieder zusammen und jede Gruppe stellt ihre Ergebnisse vor. Besonders großen Applaus bekommen die Ziegler im Sonntagskostüm. Es wird gezeigt, wie das Schlafgemach eines Wanderzieglers – aus Stroh und grobem Sackleinen aussah und wie man – bei Minusgraden Wäsche wusch. Auch Händewaschen und die Morgentoilette mit Rasur waren mühsamer als heute und besonders im Winter nicht gerade angenehm. Umso größeren Anklang findet die Darbietung der Gruppe „Schlangenfraß“, die den frierenden Zieglern am Ende des praktischen Teils einen selbstgebräuten heißen Tee ausgibt.
Im Museum lassen die Schüler ihre Eindrücke noch einmal revue passieren. Schon dieses Vormittagsprogramm war bei den Temperaturen verhältnismäßig anstrengend. Ein Schüler denkt laut: „Wenn ich das müsste – sechs Tage die Woche – würde ich weglaufen!“ – „Warum haben die das überhaupt gemacht?“ Die Erkenntnis, dass vielen Menschen damals nichts anderes übrig blieb, wenn sie Geld verdienen wollten, um ihre Familie zu ernähren, bringt viele KulturScouts doch zum Nachdenken: Vielleicht ist Schule doch gar nicht so übel. Nach dem Programm haben die Schüler noch etwas Zeit, sich eigenständig im Museum umzusehen, bevor es dann mit Bus und Bahn und den prägenden Eindrücken des Vormittags in der Ziegelei Lage wieder auf die Heimreise geht.
Antje Nöhren